Full text: Fiktionen in der Mathematik

128 
Fiktionen in der Mathematik 
solchen; man schalte dabei Hilfslinien und Hilfsstriche ein, 
die der Einbildungskraft ihre Entstehung verdanken. „Das 
Messen ist die Anwendung der diskreten Größenvorstellungen 
auf die kontinuierlichen Größen.“ Beim Zählen soll dann das 
umgekehrte Verfahren vorliegen, „es ist die Anwendung der 
Stetigkeitsvorstellung auf Diskretes“ 264 ). „Wird das Diskrete 
als ein Stetiges betrachtet, so entsteht das Zählen; wird das 
Stetige als diskret betrachtet, so entsteht das Messen.“ Beide 
mal liege eine Willkür zugrunde. „Wir finden empirisch zwei 
Arten von Größen, diskrete und stetige... Es ist eine reine 
Funktion unserer Einbildungskraft, das Getrennte als Eines 
zu betrachten, und das Eine, als Getrenntes. Wenn ich einen 
Haufen Steine zusammenfasse und zähle und diese Summe 
als Einheit betrachte und ihr etwa den Namen zehn gebe, so 
habe ich... eigentlich Jieine direkte Veranlassung. Und es ist 
eine Willkür, diese getrennte Steinmenge so zu betrachten, als 
ob sie Eines wäre, und diese Einheit sogar noch durch einen 
Namen zu hypostasieren. Auch das Zählen beruht also wie wir 
sehen, auf einer Fiktion, wenn auch auf einer sehr unschul 
digen: auf der Fiktion, das Getrennte so zu betrachten, als 
ob es Eins wäre. Darum aber sind auch alle Zahlen als Pro 
dukte dieses fiktiven Prozesses etwas rein Fiktives, wie beson 
ders Leibniz häufig betont“ 285 ). An anderer Stelle bemerkt 
Vaihinger, daß besonders in der Mathematik und Jurisprudenz 
Fiktionen zur Geltung kommen, und sagt dann: „Der tiefere 
Grund dieser Erscheinung ist, daß in diesen beiden sonst so 
diametral entgegengesetzten Gebieten die freie imagi 
native Tätigkeit des Menschen am wirksamsten 
arbeiten kann. Die mathematischen Gebilde sind imagi 
native Produkte der psychischen Funktionen und alle 
(jurist.) Gesetze... ebenso reine Produkte einer freischaffen 
den Tätigkeit des menschlichen Geistes“ usw. 
Später heißt es: „Daß die ganze Zahlenbildung imaginativ 
sei, lehrt nicht bloß die Möglichkeit der unendlich vielen 
denkbaren Zahlensysteme, sondern auch die Tatsache der 
Unendlichkeit der Zahl selbst“ 266 ). Auf derselben Seite führt
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.