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Fiktionen in der Mathematik
solchen; man schalte dabei Hilfslinien und Hilfsstriche ein,
die der Einbildungskraft ihre Entstehung verdanken. „Das
Messen ist die Anwendung der diskreten Größenvorstellungen
auf die kontinuierlichen Größen.“ Beim Zählen soll dann das
umgekehrte Verfahren vorliegen, „es ist die Anwendung der
Stetigkeitsvorstellung auf Diskretes“ 264 ). „Wird das Diskrete
als ein Stetiges betrachtet, so entsteht das Zählen; wird das
Stetige als diskret betrachtet, so entsteht das Messen.“ Beide
mal liege eine Willkür zugrunde. „Wir finden empirisch zwei
Arten von Größen, diskrete und stetige... Es ist eine reine
Funktion unserer Einbildungskraft, das Getrennte als Eines
zu betrachten, und das Eine, als Getrenntes. Wenn ich einen
Haufen Steine zusammenfasse und zähle und diese Summe
als Einheit betrachte und ihr etwa den Namen zehn gebe, so
habe ich... eigentlich Jieine direkte Veranlassung. Und es ist
eine Willkür, diese getrennte Steinmenge so zu betrachten, als
ob sie Eines wäre, und diese Einheit sogar noch durch einen
Namen zu hypostasieren. Auch das Zählen beruht also wie wir
sehen, auf einer Fiktion, wenn auch auf einer sehr unschul
digen: auf der Fiktion, das Getrennte so zu betrachten, als
ob es Eins wäre. Darum aber sind auch alle Zahlen als Pro
dukte dieses fiktiven Prozesses etwas rein Fiktives, wie beson
ders Leibniz häufig betont“ 285 ). An anderer Stelle bemerkt
Vaihinger, daß besonders in der Mathematik und Jurisprudenz
Fiktionen zur Geltung kommen, und sagt dann: „Der tiefere
Grund dieser Erscheinung ist, daß in diesen beiden sonst so
diametral entgegengesetzten Gebieten die freie imagi
native Tätigkeit des Menschen am wirksamsten
arbeiten kann. Die mathematischen Gebilde sind imagi
native Produkte der psychischen Funktionen und alle
(jurist.) Gesetze... ebenso reine Produkte einer freischaffen
den Tätigkeit des menschlichen Geistes“ usw.
Später heißt es: „Daß die ganze Zahlenbildung imaginativ
sei, lehrt nicht bloß die Möglichkeit der unendlich vielen
denkbaren Zahlensysteme, sondern auch die Tatsache der
Unendlichkeit der Zahl selbst“ 266 ). Auf derselben Seite führt