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Fiktionen in der Mathematik
Man könnte dazu bemerken, daß der historisch überlieferte
Zahlbegriff für den Mathematiker Holder, wie für andere,
natürlich ebenso viele inhaltliche Bestimmungen umfaßt wie
für Natorp. Wenn Holder diesen Weg einschlägt, den er selbst
als formalen bezeichnet, so hat das in erster Linie den Zweck —
1. zu zeigen, daß die Operationen mit Brüchen, so wie sie
die bisherige Mathematik überlieferte, in sich widerspruchs
frei begründet werden können, und
daß dieses Rechnen nicht davon abhängen kann und darf,
ob es irgendwelche empirischen Objekte gibt, an denen diese
Gebilde als eine Art Eigenschaften anschaulich aufgewiesen
werden können; aber auch nicht von irgendwelchen geneti
schen Betrachtungen, wie das Denken etwa derartige Be
ziehungen setzt; —
2, die einzelnen Momente vollkommen klarzulegen, die wir
ohne nähere Angaben, meist ohne uns dessen bewußt zu sein,
mit dem Begriff der rationalen Zahl verbinden, und sie wo
möglich auf die einfachsten und ursprünglichsten zurückzu
führen.
Natorp betont, daß in seiner Grundreihe bereits alles das
vorhanden sei, was hier bei den sog. Erweiterungen des Zahl
begriffs zum Teil in scheinbar künstlicher Form herangezogen
werden muß. Das stimmt, weil die Elemente jener Grund
reihe und diese selbst bereits mit allen den Eigenschaften aus
gestattet werden, die bei den Entwicklungen der Mathematik
nur stufenweise herangezogen werden, wie man sie für die
einzelnen Zahlformen braucht. Daß man das alles in den
Zahlbegriff hineinlegen kann, was Natorp in ihn hineinlegt,
ist wohl sicher, aber es fragt sich, mit welchem Minimum von
Forderungen jede einzelne Zahlenart vollständig und wider
spruchsfrei begründet werden kann.
G. Hessenberg beantwortet die Frage nach dem Sinn
der gebrochenen Zahlen zunächst negativ dahin, daß sie keine
„Anzahlen“, keine natürlichen, ganzen Zahlen sind. Die posi
tive Antwort lautet: Eine gebrochene Zahl... ist ein Paar
von natürlichen Zahlen, deren eine der Zähler, deren andere