Full text: Fiktionen in der Mathematik

Die Erweiterungen des Zahlbegriffs 
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wieder eine gebrochene Zahl. Andererseits kann diese Maß 
zahl auch keine ganze Zahl sein, also gibt es keine rationale 
Zahl von der geforderten Eigenschaft. Die Entdeckung dieser 
Tatsache verdanken wir den Pythagoreern. Während nun 
schon Euklid die inkommensurablen Streckenverhältnisse in 
seiner Proportionenlehre in durchaus einwandfreier Weise 
begründete, scheute man sich doch lange, den inkommen 
surablen Verhältnissen neben den kommensurablen das volle 
Bürgerrecht auch im Gebiet der Zahlen einzuräumen. Solange 
die Geometrie rein synthetisch behandelt wurde, schien das 
auch nicht notwendig; für die Durchführung der analytischen 
Geometrie aber war es eine unerläßliche Vorbedingung. Dafür 
nur ein einfaches Beispiel: „Wenn nur die Punkte mit kom 
mensurablen Koordinaten als wirklich betrachtet würden, so 
würden die Diagonale eines Quadrats und der diesem Quadrat 
einbeschriebene Kreis sich nicht schneiden, denn die Koor 
dinaten des Schnittpunktes berechnen sich als inkommen 
surable Zahlen“ 416 ). Aber auch die Algebra forderte ihrerseits 
die Einführung dieser Zahlen. 
Gerade die analytische Geometrie trug nun sehr viel dazu 
bei, das Mißtrauen gegen die irrationalen Zahlen zu zer 
streuen, so sehr, daß man vor etwa 100 Jahren, als die For 
derung nach strengeren Beweisführungen sich mehr und mehr 
durchsetzte, diese Zahlen bereits als etwas Selbstverständliches 
und Wohlfundiertes ansah. So betrachtet Cauchy in seinem 
Werk „Cours d’analyse“ von 1821 die irrationalen Zahlen als 
etwas Gegebenes; höchstens bezeichnet er sie gelegentlich als 
Grenzwerte von Folgen rationaler Zahlen. 
Bolzano hatte wohl bemerkt, worauf es eigentlich dabei 
ankam, aber sein hierher gehöriger Beweis war nicht stich 
haltig, da eine klare Definition der Irrationalzahlen fehlte 417 ). 
Der erste, der diesen Mangel klar erkannte, war Dedekind, 
und seine Ideen sind es, die heute noch am meisten, wenn auch 
in Einzelheiten abgewandelt, der strengen Behandlung der 
irrationalen Zahlen zugrunde gelegt werden. Die Grundgedan 
ken Dedekinds sollen daher zuerst dargestellt werden 418 ).
	        
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