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Die Erweiterungen des Zahlbegriffs
G. Cantor stellte 1872 eine Theorie auf, die von der Dede-
kindschen wesentlich abweicht. Er stützt seine Theorie auf die
sog. Fundamentalreihen, die er in folgender Weise definiert 425 ):
„Jede derartige Menge (von rationalen Zahlen) (a v ), welche
durch die Forderung Lim^, = oo {a v + ^ — a v ) = 0 (bei
beliebig gelassenem ju) charakterisiert werden kann, nenne ich
eine Fundamentalreihe und ordne ihr eine durch sie zu definie
rende Zahl b zu.“DieForderung, die Cantor hier stellt, ist gerade
die Bedingung des Konvergenzkriteriums einer unendlichen
Zahlenfolge 426 ). Eine solche Zahlenreihe (eine Fundamental
reihe) kann einen rationalen Grenzwert haben, und man kann
dann die Fundamentalreihe als ein Äquivalent für die rationale
Zahl ansehen. Aber es gibt auch Fundamentalreihen, die diese
Eigenschaft nicht haben und Cantor sagt dann kraft Defi
nition, daß ein irrationaler Grenzwert existiert 427 ). Die von
Cauchy und Bolzano nicht bewiesene Richtigkeit des Satzes,
daß eine solche Fundamentalreihe einen Grenzwert hat, „wird,
wenigstens für Folgen rationaler Zahlen, einfach durch
Definition erzwungen“. Gegen diese Art des Vorgehens erhebt
Frege 428 ) schwere Einwände; vor allem macht er Cantor den
Vorwurf, daß er die Zuordnung von b zur Fundamentalreihe
und die Definition der neuen Zahl b in eine Handlung zu
sammengezogen habe. Man könne zwar eine definierte Zahl
einer Fundamentalreihe zuordnen, nicht aber eine erst zu
definierende, die wir also noch gar nicht haben 429 ).
Nach Frege gibt es zwei Auffassungsweisen der Cantor-
schen Theorie;
1. Die Zahlen, die den Fundamentalreihen zugeordnet wer
den sollen, sind nur Zeichen. Dann erscheinen die Funda
mentalreihen als die Bedeutungen dieser sog. Zahlen und die
Zuordnung ist unwesentlich. Wir haben im Grunde nur die
Fundamentalreihen, während die Hauptsache fehlt, nämlich
die eigentlichen Zahlen, die Größenverhältnisse.
2. Die Zahlen sind abstrakte Gedankendinge; dann aber
meint Frege, bleibe es bei der Absicht, den Fundamentalreihen
neue Zahlen zuzuordnen, da es nicht gelinge, diese abstrakten
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