Das Unendliche in der Mathematik
die Grenzprozesse der Infinitesimalrechnung ebenso ohne Zu
hilfenahme des Unendlichkleinen ausgeführt werden können,
wie der Übergang von der Ellipse zum Kreis; eine Fiktion
können wir darin nicht erkennen.
Wir betrachten nun einen anders gearteten Fall, bei dem
der Ausdruck „unendlich“ auch von Mathematikern viel an
gewendet wird; es ist das die Verwendung sog. un-
eigentlicher oder idealer Elemente. Da wir keine
vollständige Theorie dieser Elemente hier entwickeln können,
das Typische der Erscheinung aber auch schon an einem
Einzelbeispiel hervortreten kann, beschränken wir uns auf
die Betrachtung der „uneigentlichen Punkte“.
In der Elementargeometrie sagen wir: Zwei in einer Ebene
gelegene Gerade haben entweder einen gemeinsamen Punkt
oder sie sind parallel, d. h. sie haben ein gemeinsames Rich
tungspaar. Wir stellen uns nun nicht einen unendlich fernen
Punkt vor, denn das kann niemand, sondern wir fassen
Punkte und Richtungspaare unter dem gemeinsamen Namen
Punkt zusammen, dann wird der vorstehende Satz formal ver
einfacht und lautet: Zwei in einer Ebene gelegene Gerade
haben einen gemeinsamen Punkt. Analog liegt die Sache,
wenn wir eine Strecke A B im Verhältnis X und -X teilen. Der
eine Teilpunkt P liegt dann im „Innern“ der Strecke, der
andere auf einer der beiden Verlängerungen. Wird statt X der
eine Teilpunkt gegeben, etwa der innere, so kann auf bekannte
Weise, z. B. mittelst des vollständigen Vierecks, der andere in
eindeutiger Weise konstruiert werden. Ist aber der innere
Punkt Mittelpunkt der Strecke, so schneidet die den äußeren
Punkt bestimmende Gerade die Verlängerungen der ge
gebenen Strecke nicht. Durch Einführung des „ oo fernen
Punktes, d. h. dadurch, daß man das Richtungspaar der beiden
parallelen Geraden wieder als „Punkt“ betrachtet, kann auch
hier der Ausnahmefall des Satzes, daß es zu irgendeinem
Punkt P einer Strecke A B stets einen zugehörigen Punkt Q
gibt, der von P durch A und B harmonisch getrennt ist, formal
beseitigt werden.
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