Fiktionen in der Mathematik
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Mengenlehre mehr und mehr ein Gegensatz heraus, der in der
Geschichte der Mathematik einzig dasteht, der allerdings
schon in dem alten Streit zwischen atomistischer und kon
tinuierlicher Weltauffassung vorgezeichnet ist.
Ehe wir diesen Gegensatz in seiner heutigen Schärfe heraus
heben, beschäftigen wir uns mit einer älteren Arbeit von
G. Hessenberg, aus der die Problemstellung schon deutlich
hervorgeht.
G. Hessenberg 452 ) sieht schon in der Ungeklärtheit des
Begriffs der Menge einen ernsthaften Mangel für die all
gemeine Durchführung der mengentheoretischen Betrach
tungen. Er meint, wahrscheinlich dürfe eine Definition gar
nicht verlangt werden, sondern nur ein Axiomen-
system. „Die üblichen Definitionen der Menge gestatten
keinerlei brauchbare Schlüsse zu ziehen, andererseits aber
passen unter sie auch paradoxe Mengen...“ Da es aber wider
spruchsfreie unendliche Mengen zu geben scheine, müsse eine
richtige Definition oder ein korrektes Axiomensystem para
doxe Bildungen ausschließen, wenn es zu einem brauchbaren
System von Folgerungen Anlaß geben wolle 463 ). An anderer
Stelle sagt er 454 ): „Wir kennen unendliche Mengen, auf die
unsere Betrachtungen widerspruchsfrei anwendbar sind, aber
wir haben bisher keine Kenntnis derjenigen Eigenschaften, die
der Definition einer Menge zu eigen sein müssen, damit diese
Widerspruchslosigkeit gewährleistet ist. Daß solche vorhanden
sein müssen, können wir durch die Existenz paradoxer Men
gen zeigen.“
Bei der Erörterung gewisser prinzipieller Fragen kommt
Hessenberg zunächst auf das Problem der logischen
Vollständigkeit und Entscheidbarkeit zu spre
chen. Bei seinem Aufbau der Mengenlehre mußte er von der
logisch vollständigen Disjunktion sehr oft Gebrauch machen;
gerade darin aber und in dem Mangel einer wirklichen An
schauung beim Beweise sieht er eine Schwäche der Mengen
lehre, darin liege vielleicht auch die Ursache gewisser uner
ledigter Paradoxien.