Fiktionen in der Mathematik
treffenden Aussagen auf Beziehungen zwischen endlichen
Größen zurückgeführt; aber es trete noch immer auf in den
unendlichen Zahlenfolgen, welche die reellen Zahlen defi
nieren und im Begriff des Systems der reellen Zahlen, welche
ganz so wie fertig und abgeschlossen vorliegende Gesamt
heiten aufgefaßt werden. Die Formen des logischen Schließens,
in denen diese Auffassung zum Ausdruck kommt, werden in
der Weierstraßschen Begründung der Analysis in unbe
schränktem Maß in Anspruch genommen und immer wieder
holt angewandt. Dadurch konnte das Unendliche in verdeckter
Form doch wieder hineinspielen, ohne von seiner Kritik ge
troffen zu werden. Es gilt daher nach Hilbert, dieses Pro
blem des Unendlichen noch zu klären.
So wie bei den Grenzprozessen der Infinitesimalrechnung
das Unendliche im Sinn des unendlich'Kleinen und unendlich
Großen sich als bloße Redensart erweisen ließ, so müssen wir
auch das Unendliche im Sinne der unendlichen Gesamtheit, wo
wir sie jetzt noch in den Schlußweisen vorfinden, als etwas
bloß Scheinbares erkennen. „Und so wie das Operieren mit
dem unendlich Kleinen durch Prozesse im Endlichen ersetzt
wurde, welche ganz dasselbe leisten.,so müssen überhaupt
die Schlußweisen mit dem Unendlichen durch endliche Pro
zesse ersetzt werden ...“ Dies ist die Absicht meiner Theorie,
sagt Hilbert, „Sie hat zum Ziel, die definitive Sicherheit der
mathematischen Methode herzustellen, zu welcher die kritische
Periode der Infinitesimalrechnung noch nicht gelangt ist; sie
soll also zur Vollendung bringen, was Weierstraß mit seiner
Grundlegung der Analysis angestrebt und wozu er den einen
notwendigen und wesentlichen Schritt getan hat“ 478 ).
Nach Ansicht Hilberts gibt es einen völlig befriedigenden
Weg, um den Paradoxien der Mengenlehre zu entgehen. Die
Gesichtspunkte zur Auffindung dieses Weges und die Wünsche,
die die Richtung weisen, sind:
1. Fruchtbaren Begriffsbildungen und Schlußweisen sorg
fältig nachzuspüren, sie zu pflegen und gebrauchsfähig zu
machen.
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