Fiktionen in der Mathematik
entbehrlich, die Logik reicht allein nicht aus. „Das Operieren
mit dem Unendlichen kann nur durch das Endliche gesichert
werden/'
„Die Rolle, die dem Unendlichen bleibt, ist vielmehr ledig
lich die einer Idee, — wenn man, nach den Worten Kants,
unter einer Idee einen Yernunftbegriff versteht, der alle Er
fahrung übersteigt und durch den das Konkrete im Sinne der
Totalität ergänzt wird — einer Idee überdies, der wir un
bedenklich vertrauen dürfen in dem Rahmen, den die von mir
hier skizzierte und vertretene Theorie gesteckt hat“ 479 ).
Mit den vorstehenden Äußerungen Hilberts schließen wir
die Erörterung der „Mengenlehre“ ab. Wir haben es in ihr mit
einer wissenschaftlichen Disziplin zu tun, von der man schon
ernstlich in Frage stellte, ob sie noch der eigentlichen, stren
gen Mathematik zugerechnet werden könne, und ob ihre Be
griffsbildungen vom mathematischen Standpunkt aus haltbar
seien.
Jedenfalls ist man von vornherein geneigt, der Fiktion in
diesem Gebiet ein weites Feld einzuräumen. Wenn man dabei
aber „Fiktion“ im Sinn von „widerspruchsvolle, zweckmäßige
Annahme“ voraussetzt, und etwa auf die „Antinomien“ oder
„Paradoxien des Unendlichen“ hinweist, so liegt ein Irrtum
vor. Daß hier erhebliche Widersprüche aufgetreten sind, muß
zugegeben werden, aber sie traten nicht als bewußt fal
sche, zweckmäßige. Bildungen in die Erscheinung,
sondern als unliebsame Gäste, die sich im Lauf der Entwick
lung einfanden und zeitweilig die ganze Disziplin gefährdeten.
Ihre Beseitigung war aber deshalb so mühevoll, weil man nur
sehr schwer die Quelle der Irrtümer aufdecken konnte.
Aber gerade diese Tatsache zeigt uns, daß die Fiktion in
anderem Sinne in der Mengenlehre tatsächlich weitgehende
Verwendung findet, nämlich als willkürliche, aber wider
spruchsfreie Annahme und alsprovisorischeBildung,
als freie imaginative Schöpfung, als etwas, dessen wider
spruchsfreie Begründung und definitive Eingliederung in den
Bau der Mathematik noch nicht gesichert ist.
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