Wir kennen heute eine Reihe von Begriffen und Sätzen, die
wohl zum dauernden Besitz der Mathematik gezählt werden
können; aber ihnen stehen andere von durchaus problemati
schem Charakter gegenüber. Ob diese in ihrer heutigen Fas
sung nur geringe formale Mängel aufweisen, die sich beheben
lassen, oder ob sie sich ihrem ganzen Wesen nach als unhalt
bar herausstellen werden, läßt sich oft nicht entscheiden; nicht
einmal der Begriff der Menge selbst ist restlos geklärt.
Wir sind aber überzeugt, daß das gegenwärtige Entwick
lungsstadium der Mengenlehre früher oder später überwunden
wird und sich dann die brauchbaren Begriffe und Sätze in
ebenso klarer Form herauskristallisieren werden, wie wir das
in der Infinitesimalrechnung und in den älteren mathemati
schen Disziplinen feststellen konnten.
Diese Dinge weisen uns auf eine typische Erscheinung hin.
Die Mengenlehre ist die jüngste mathematische Disziplin, noch
durchaus im Werden; die Analysis hat dieses Entwicklungs
stadium wenigstens soweit hinter sich, als sie nicht selbst in
die Mengenlehre hinübergreift. In den älteren Disziplinen der
Mathematik, der Arithmetik und elementaren Geometrie liegen
uns die abgeklärten Resultate eines abgeschlossenen Prozesses
vor, der wohl nicht wesentlich anders verlaufen ist als der, den
wir heute in der Mengenlehre noch vor uns haben und den wir
uns andererseits vergegenwärtigen können, wenn wir den ver
schiedenen Entwicklungsphasen der Infinitesimalrechnung
folgen.
Ist diese Auffassung richtig, so kommt der Fiktion in der
Mathematik vor allem historische Bedeutung zu. Wo
sich die alten Formen als zu eng erweisen und neue gesucht
werden, da treten solche immer zunächst als provisorische Be
griffsbildungen, als versuchsweise Ansätze auf. Sie verdanken
ihre Entstehung einer gewissen schöpferischen Gestaltungs
kraft, die in der mathematischen Forschung zu wirklichem
Vorwärtskommen mindestens ebenso unentbehrlich ist wie in
andern Wissenschaften; ja hier spielt das freigestaltende, ima-
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