Fiktionen in der Mathematik
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ginative Momente vielleicht eine viel größere Rolle als in den
empirischen Wissenschaften.
Es steht nichts im Wege, diese freigestaltende Tätigkeit des
Geistes eine fiktive zu nennen. Jedenfalls muß ein wesentliches
Verdienst H. Vaihingers darin gesehen werden, daß er die Be
deutung dieser fingierenden Tätigkeit neben der deduktiven
und induktiven besonders für die wissenschaftliche Forschung
erkannt hat.
Wir dürfen uns aber nicht darüber täuschen, daß diese fin
gierende Tätigkeit allein nicht genügt, sondern daß sie auf ge
wissen transzendentalen Voraussetzungen ruht und anderer
seits ihre Gebilde sich bei nachfolgender Prüfung als haltbar
erweisen müssen.
Es ist uns gleichsam ein Grundstoff gegeben; wie wir ihn zu
einem ganzen Bau ausgestalten, ist in unser Belieben gestellt,
wenn wir nur gewissen statischen Gesetzen genügen, die nicht
unserer Willkür entstammen, sondern außer uns herrschen, ob
wir sie kennen oder nicht, ob wir sie anerkennen oder leugnen.
Auch in der Mathematik werden die richtigen und brauch
baren Begriffsbildungen im allgemeinen nicht unvermittelt ge
wonnen, unmittelbar erschaut, sondern sind das Ergebnis
vieler Versuche, mögen sich diese auch ganz in der geistigen
Sphäre des Entdeckers abgespielt haben. So mögen manche
solche Neubildungen sofort in definitiver Form von dem For
scher ausgegeben werden, bei andern bedarf es jedenfalls oft
eines langen Läuterungsprozesses, aus dem sie schließlich
mehr oder weniger verändert hervorgehen.
Es wäre nun eine reizvolle Aufgabe, den hier angedeuteten
Prozeß in der Geschichte der Mathematik in bezug auf einzelne
markante Beispiele, z. B. das Imaginäre und die Grundbegriffe
der Infinitesimalrechnung zu verfolgen. Wir würden finden,
daß immer zunächst der Versuch auf tritt, die als zu eng emp
fundenen Formen zu sprengen und Gebilde einzuführen, die
zuerst als unberechtigt, als illegitim, aus dem Eigenbereich
hinausfallend, erscheinen (Typus B).