I. Kapitel.
Die natürlichen Zahlen.
§ 1. Der Begriff der natürlichen Zahl.
Die Arithmetik ist die Wissenschaft von den Zahlen und ihren
Verknüpfungen. Ihre erste Aufgabe besteht in einer Beantwortung
der Frage: Was ist die Zahl, welches ist der Ursprung des Zahl
begriffs? Unsere innere Erfahrung sagt uns, daß der Inhalt unseres
Bewußtseins nicht ein unteilbares Ganze bildet, daß wir vielmehr
imstande sind, Vorstellungen gegeneinander abzugrenzen. Von diesen
stehen fast immer gewisse im Vordergründe unseres Interesses, ohne
daß die übrigen deshalb aus dem Bewußtsein zu verschwinden brauchen.
Fassen wir jede der uns in einem bestimmten Moment interessierenden
Vorstellungen für sich auf und verbinden dann alle ohne Rücksicht
auf ihre Gruppierung durch einen Denkakt zu einem Ganzen, so ge
langen wir zu dem Begriff der „Vielheit“ oder „Mehrheit“ oder „Menge“
oder des „Inbegriffs“ oder „Aggregats“ von Dingen, das Wort „Ding“
dabei im allgemeinsten Sinne genommen, es darf alles bezeichnen,
was Gegenstand des Vorstellens sein kann. Zu einem Inbegriff lassen
sich die heterogensten Dinge vereinigen. Bei der Bildung des Vielheits
begriffes ist unser Interesse eben nicht auf den Inhalt der einzelnen
Vorstellungen, sondern nur auf ihre durch einen besonderen psychischen
Akt vollzogene „kollektive“ 1 ) Verbindung gerichtet.
Jede Vorstellung nun, auf deren besonderen Inhalt es uns für
den augenblicklichen Zweck gar nicht ankommt, können wir als
„irgend etwas“ oder „eins“ bezeichnen, und da die kollektive Ver
bindung ihren sprachlichen Ausdruck in der Kopula „und“ findet, so
bedeutet Vielheit nichts anderes als „etwas und etwas und etwas usw.“
oder „eins und eins und eins usw.“ Die einzelnen Begriffe „eins und
eins“, „eins und eins und eins“, „eins und eins und eins und eins usw.“
sind schon auf der primitivsten Kulturstufe von praktischer Wichtig-
1) Diese Bezeichnung wendet E. Husserl in seiner „Philosophie der Arith
metik“ (Halle 1891) an, welche die in diesem Paragraphen gegebene Entwicklung
•des Zahlhegriffs stark beeinflußt hat. Eine ganz ähnliche Auffassung desselben
findet sich auch in dem Aufsatze von G. Cantor: „Beiträge zur Begründung
der transfiniten Mengenlehre“. Matbem. Annal. Bd. 46, S. 481.
Parker: Arithmetik.
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