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VI. Kapitel. Die irrationalen Zahlen.
nalen und irrationalen Zahlen hat wohl zuerst Michael Stifel deutlich
zum Ausdruck gebracht, welcher in seiner Arithmetica integra (Nürnberg
1544) sagt, daß zwischen zwei benachbarte ganze Zahlen einerseits
unzählig viele rationale, andererseits unzählig viele irrationale Zahlen
fallen, und daß keine von diesen Zahlen aus der einen Kategorie in
die andere übergehen könne. Etwa 100 Jahre später bezeichnete
Descartes (Geometrie, 1637) beliebige Streckenverhältnisse mit Buch
staben und rechnete mit ihnen wie mit Zahlen, und Newton stellte
an die Spitze seiner Arithmetica universalis (1707) geradezu die De
finition: „Per numerum abstractam quantitatis cuiusvis ad aliam ejus
dem generis quantitatem, quae pro unitate habetur, rationem intelligi-
mus“, von welcher er dann allerdings weiterhin keinen Gebrauch
macht. An dieser geometrischen Begründung und Veranschaulichung
des Zahlbegriffs hat man lange Zeit festgehalten. Man kann ja nun
tatsächlich, wenn von zwei Größen derselben Art (z. B. Strecken) die
eine als Einheit betrachtet wird, der andern nach dem § 8 auseinander
gesetzten Verfahren einen endlichen oder einen unendlichen Ketten
bruch zuordnen, je nachdem die beiden Größen kommensurabel oder
inkommensurabel sind. Der endliche Kettenbruch ist eine rationale
Zahl; der sich ins Unendliche erstreckende, welcher noch keine Be
deutung hat, könnte als neue, als irrationale Zahl definiert werden,
und die Berechtigung, mit einem solchen Symbole wie mit einer Zahl
zu operieren, könnte darin gefunden werden, daß ihm ebenso wie dem
endlichen Kettenbruche eine bestimmte Größe (Strecke) entspricht.
Zwei solche Zahlen würden dann als gleich oder ungleich zu erklären
sein, je nachdem die entsprechenden Größen (Strecken) gleich oder
ungleich sind, usw. Um nun sicher zu sein, daß ein aus solchen
Symbolen durch irgend welche Rechenoperationen abgeleitetes neues
Symbol stets auch wieder eine Zahl ist, müßte man wissen, daß nicht
nur jeder Strecke ein derartiges Symbol, sondern auch umgekehrt
jedem so gebildeten Symbole wieder eine bestimmte Strecke entspricht,
d. h., man müßte von dem Cantor-Dedekindschen Axiom (siehe
S. 324) Gebrauch machen, würde also zur Begründung der Theorie
der irrationalen Zahlen ein der Arithmetik fremdes Element nötig
haben. Zur Vermeidung dieses Übelstandes haben fast zu gleicher
Zeit mehrere hervorragende Mathematiker rein arithmetische Theorien
der irrationalen Zahlen gegeben.
Dedekind 1 ) geht von der Überlegung aus, daß man die Ge
1) Dedekind, Stetigkeit und irrationale Zahlen, Braunschweig 1872,
3. Aufl. 1905. Ygl. auch Pasch, Einleitung in die Differential- und Integral
rechnung, Leipzig 1882 und Math. Ann. Bd. 40 (1892), S. 149; Ricci, Deila
teoria dei numeri reali secondo il concetto di Dedekind, Giomale di Mate-
matiche di Battaglini, Bd. 35 (4. Bd. der 2. Serie), Napoli 1897, S. 22—74.