Full text: Arithmetik (1. Teil, 1. Band)

§ 9. Die arithmetischen Theorien der irrationalen Zahlen. 
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samtheit aller rationalen Zahlen auf unendlich viele Arten so in zwei 
Klassen teilen kann, daß eine beliebige Zahl der ersten Klasse kleiner 
ist als irgend eine Zahl der zweiten Klasse. Jede solche Scheidung 
der rationalen Zahlen nennt er einen „Schnitt“. Wenn es in der 
ersten Klasse eine größte oder in der zweiten Klasse eine kleinste 
rationale Zahl gibt, so bringt diese rationale Zahl den Schnitt hervor. 
Findet sich aber weder in der ersten Klasse eine größte noch in der 
zweiten eine kleinste rationale Zahl (z. B. wenn zur ersten Klasse alle 
rationalen Zahlen gehören, deren Quadrat kleiner als 2, und zur 
zweiten alle rationalen Zahlen, deren Quadrat größer als 2 ist), so 
„erschafft“ Dedekind eine neue, eine irrationale Zahl, welche als 
durch den Schnitt vollständig definiert angesehen wird. Auf Grund 
dieser Definition sind nun die Größenbeziehungen zwischen den irra 
tionalen Zahlen untereinander und zu den rationalen sowie die Rechen 
operationen für die irrationalen Zahlen zu entwickeln. Die Dedekind- 
sehe Theorie hat namentlich den Vorteil, daß jeder bestimmten 
irrationalen Zahl nur ein einziger Schnitt entspricht; sie ist aber, 
wenigstens für den ersten Unterricht, etwas abstrakt und ihre Ver 
wendung in der Analysis häufig nicht gerade bequem, weil die 
irrationalen Zahlen sich im allgemeinen nicht in Form von Schnitten 
darzubieten pflegen. 
Weierstraß 1 ) geht von einer aus unendlich vielen Gliedern be 
stehenden Reihe rationaler Zahlen aus, bei der man angeben kann, 
welche rationale Zahlen überhaupt auftreten, und wie oft jede vor 
kommt. (Man denke z. B. an einen unendlichen Dezimalbruch, in dem 
jede beliebige Stelle durch einen bestimmten Algorithmus gefunden 
werden kann.) Einer solchen Reihe ordnet er eine neue Zahlgröße 
zu, für welche die Begriffe der Gleichheit und der Ungleichheit ent 
wickelt und die Rechenoperationen definiert werden. Es läßt sich 
dann in aller Strenge zeigen, daß die Differenz zwischen der neu ein 
geführten Zahlgröße und der Summe einer hinreichend großen Anzahl 
von Gliedern der gegebenen Reihe beliebig klein gemacht werden 
kann, woraus sich die Berechtigung ergibt, die eingeführte Zahl als 
Grenzwert der Reihe zu bezeichnen. 
Besser noch paßt sich dem Kalkül die auf Weierstraß fußende 
und als eine, namentlich für die Analysis glückliche Fortbildung der 
1) Weierstraß hat seine Theorie in seinen Vorlesungen über „Analytische 
Funktionen“ an der Universität Berlin vorgetragen, aber nicht selbst durch den 
Druck veröffentlicht. Mitteilungen über sie finden sich bei Kossak, Pro- 
grammabhandlung des Friedlich-Werderschen Gymnasiums zu Berlin 1872, bei 
Pincherle, Giornale di Matematiche 18 (1880), S. 185 ff, und bei Biermann, 
Theorie der analytischen Funktionen, Leipzig 1887 (S. 19 ff).
	        
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