Full text: Arithmetik (1. Teil, 1. Band)

§ 1. Historische Einleitung. 
etwa zwei und ein halbes Jahrhundert stehen geblieben. Im Verlaufe 
des 17. und des 18. Jahrhunderts machte man von den Quadrat 
wurzeln aus negativen Zahlen einen immer umfassenderen Gebrauch. 
Je weiter Arithmetik, Algebra und Analysis fortschritten, um so mehr 
drängten sie sich geradezu den Mathematikern auf, denen es gar nicht 
mehr möglich war, ohne sie auszukommen. Das Wort „imaginär“ 
führte 1637 Descartes in seiner „Geometrie“ für solche Gleichungs 
wurzeln ein, denen eine Größe nicht entspricht*). Im 18. Jahrhundert 
erwarben sich um die formale Ausbildung der Lehre von den ima 
ginären Zahlen besondere Verdienste Cotes, de Moivre und vor 
allen L. Euler, von dem übrigens auch die Bezeichnung i für ]/— 1 
herrührt 1 2 ). Aber auch die hervorragendsten Geister jener Zeit waren 
noch zu keiner klaren Vorstellung von dem Wesen und der Existenz 
berechtigung der imaginären Zahlen gelangt. Das Vorkommen ima 
ginärer Faktoren bezeichnet Leibniz (in einem Aufsatze von 1702 
über die Zerlegung eines Bruches in Partialbrüche) als „eine elegante 
und wunderbare Zuflucht des göttlichen Geistes, eine Mißgeburt der 
Ideenwelt, fast ein Doppellebewesen zwischen Sein und Nichtsein“ 
(Cantor III, S. 273), und Euler sagt in seiner Algebra (Art. 143, 144), 
daß „die Quadratwurzeln aus negativen Zahlen, da sie weder größer 
noch kleiner als Null noch auch Null selber seien, nicht unter die 
möglichen Zahlen gerechnet werden können“. 
So können wir verstehen, daß, obwohl es unmöglich war, den 
großen Nutzen, welchen die imaginären Zahlen leisteten, zu verkennen, 
man ihrer Verwendung mißtrauisch gegenüberstand und die mit ihrer 
Hilfe gefundenen Resultate vielfach noch nachträglich, ohne sie zu 
benutzen, zu verifizieren suchte. 
Volle Klarheit über das Wesen der imaginären Zahlen brachte 
erst das 19. Jahrhundert. Wir haben schon früher 3 ) darauf hinge 
wiesen, in welchen beiden Bedeutungen von der Realität irgend welcher 
Zahlbegriffe gesprochen werden kann. Zunächst gelang der Nachweis, 
daß den imaginären Zahlen (nach G. Cantors Terminologie) „transiente“ 
Realität zukommt, oder daß sie (nach H. Hanke 1) zu den „actuellen“ 
Zahlen zu rechnen sind, d. h., es gelang zu zeigen, daß sie als Ab- 
1) „Caeterum radices tam verae (die positiven) quam falsae (die negativen) 
non semper sunt reales, sed aliquando tantum imaginariae; hoc est, semper 
quidem in qualibet aequatione tot radices quot dixi imaginari licet; verum nulla 
interdum est quantitas, quae illis, quas imaginamur, respondet.“ (Lateinische 
Ausgabe der „Géométrie“ von 1659, Bd. I, S. 76; vgl. Cantor II, S. 795.) 
2) „Formulam ]/— 1 littera i in posteriorem designabo, ita ut sit i - i — — 1, 
ideoque 4- = — Cantor IY, S. 315. 
3) Kap. YI, § 1, S. 297, Anm. 1. 
HHHi1
	        
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