94 Historische Übersicht
hundert das Studium der griechischen Geometer begann, fehlte das
Verständnis für die Strenge der Beweise, die wir bei jenen ausge
zeichneten Denkern finden. Trotzdem wirkten besonders die Schriften
des Archimedes anregend.
Der berühmte Astronom Johannes Kepler (1571 — 1630) er
reichte eine große Virtuosität in der Handhabung infinitesimaler Metho
den. Er kam vermöge seines feinen mathematischen Takts fast immer
zu richtigen Ergebnissen, obwohl seine Methoden nichts weniger als
exakt waren. In seiner „storoornot-ria doliorum vinariorum“ (Stereo
metrie der Weinfässer), die 1615 gedruckt ist, finden wir im ersten
Abschnitt eine Rekapitulation der archimedischen Arbeit über Kugel
und Zylinder. Hier können wir sehen, von welcher Art Keplers infini
tesimale Betrachtungen sind und wie bei ihnen jede Spur eines wirklichen
Beweises fehlt. Kepler erklärt z. B., die Kugel bestehe „gewissermaßen"
aus unendlich vielen äußerst dünnen Kegeln, die ihre Spitze im Mittel
punkt und ihre Basis aus der Oberfläche der Kugel haben. So ist es
dann leicht, den Inhalt der Kugel zu finden, wenn man ihre Ober
fläche schon kennt. In ähnlicher Weise berechnet Kepler die Volumina
von anderen Körpern. So wenig dieses leichtfertige Umgehen mit dem
Unendlichkleinen den Forderungen der mathematischen Strenge ent
spricht, so sehr hat es doch die Forschung gefördert. Man konnte sich
leichter bewegen als in der schweren Rüstung einer strengen Methode.
Keplers Buch übte freilich keinen so großen Einfluß aus. Das gelang
in höherem Maße der „Notbodus indivisibilium“ des Mailänders
Cavalieri (1591—1647), obwohl ihre Grundlagen unklar waren
und viele Angriffe erfuhren. Wir wissen aus Briefen Cavalieris, daß
der große Galilei (1564—1642) eine ähnliche Methode besaß.
Cavalieris Hauptidee ist es, ein ebenes Flächenstück als den Inbegriff
aller zu einer festen Geraden parallelen Sehnen zu betrachten und
einen Körper als den Inbegriff aller zu einer festen Ebene parallelen
ebenen Schnitte. Hierin steckt im Grunde der Begriff des bestimmten
Integrals, aber doch in einer sehr unklaren Form. Cavalieris Methode
wurde von Torricelli, einem Schüler Galileis benutzt, um den
Flächeninhalt der Zykloide zu berechnen, und erfuhr auch sonst die
mannigfachsten Anwendungen.
In Frankreich haben Fermat (1601 —1665), Roberval (1602
bis 1672) und Pascal (1623—1662) Methoden zur Ausführung
von Quadraturen entwickelt. Sie verließen z T die rein geometrische