ABSCHNITT II
DIE MORALPHILOSOPHIE
8. Der ethische Wert und seine Begründung
1. Der theoretische Erkenntnisbegriff ist bei Kant vornehmlich ge-
rade auf den Inhalten aufgebaut, die den größten methodischen Ab-
stand von den geistigen Inhalten der Kultur bedeuten. Die Natur ist
ein System von körperlichen Atomen, die selbst völlig seelenlos sind
und durch Gesetze nach einer Kausalität regiert werden, die keine
Lücke läßt für ein persönliches Tun. Nur gerade die beiden äußersten
Pole seines Erkenntnisbegriffs, seine letzten Prinzipien, sind von einer
so universalen Weite, daß sie auch die wissenschaftlichen Problem.
stellungen, die die Tatsache des Kulturgefüges aufgibt, zu umfassen
vermögen. Kultur ist von außen ein materielles Gefüge, ist ein System
zwischen Dingen und Leibern. Aber den Leibern sowohl wie diesen
Systembeziehungen wohnt ein geistiges Prinzip ein. Tiere können
niemals Kultur erzeugen. Kultur ist daher stets ratio, ist ein relativ
sichtbarer Ausdruck der Vernunft, weil sie eine Ordnung ist, die von
empirischen, vernunftbegabten Ichen nach Vernunftgesichtspunkten
geschaffen worden ist. Und soviel Willkür und bloßer Instinkt diese
Erzeugung im einzelnen Falle motiviert, geleitet und begleitet haben
mag, als fertiges Ergebnis ist sie immer, gleichviel auf welchem tat-
sächlichen Niveau sie angekommen ist, eine sinnvolle Ordnungsein-
heit, die in sich wohlgegliederte, zusammenpassende Zweckgefüge
aufweist. Jegliches Kultursein ist daher sowohl vom Urteil und seiner
Gesetzmäßigkeit, wie auch von der Ichheit und ihrer Gliederung be-
dingt. Diese Prinzipien aller Gegenständlichkeit, die die theoretisch-
wissenschaftliche Einheit der kantischen Philosophie verbürgen,
stehen, logisch betrachtet, über den eigentümlichen Gesichtspunkten,
die den Kulturbegriff, das Kulturbewußtsein und die einzelnen Kultur-
inhalte konstituieren. Daher kann es im Sinne der diskursiv erken-
nenden wissenschaftlichen Methode keinen Primat der praktischen
Vernunft geben. Auf sein Werk im ganzen gesehen, schreibt daher
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