Full text: Kant

9. Die allgemeine Gültigkeit des Sittengesetzes 
und der Kulturbegriff 
1. Im Sollen, im kategorischen Imperativ entdeckt Kant, wie wir 
bereits festgestellt haben, das allgemeine Prinzip des Sittlichen. Soweit 
innerhalb des Problems der Sittlichkeit nur von diesem Prinzip die 
Rede ist, kann der oft wiederholte Vorwurf gegen Kant von seiner 
bloß formalen Bestimmung der Moral nicht stichhaltig sein. Denn 
alle Prinzipien tragen notwendig ein formales Gefüge. So gewiß also 
das Prinzip des Sittengesetzes keinen besonderen Inhalt zur Pflicht 
macht, so wenig kann daraus bereits der Schluß gezogen werden, daß 
es von einer bedenklichen Leere und Inhaltslosigkeit sei. Sofern das 
Prinzip des Moralischen nur die Form des Pflichtbegriffes betreffen 
will, kann es sich selbst nicht in eine ausgebreitete Pflichtenlehre 
entfalten. Aber dennoch stellt es einen bestimmten und wohldefinier- 
baren Inhalt dar. Dieser Inhalt kann sich nur auf das Sollen erstrek- 
ken. Das Sollen ist jedoch ein „erster‘“ Begriff und darum nicht weiter 
definierbar. 
Indessen bedarf eine derartige Behauptung, die sich ebenso häufig 
bei der Behandlung prinzipieller Fragestellungen der Philosophie wie- 
derholt, wie sie mangelhaft begründet wird, einer genaueren Beweis- 
führung. Das Kennzeichen erster Begriffe ist in ihren korrelativen 
Funktionen zu suchen. Denn wenn die Frage nach der Begründung 
von einem Begriffe A auf einen Begriff B und von diesem wieder 
zurück auf A führt, wo also jene Scheinzirkel auftreten, wie sie uns 
oben bei der Erörterung der Prinzipien des Wahrheitsbegriffes ent- 
gegentraten, dann ist man auf Begriffe gestoßen, die sich selbst be- 
gründen, weil die Frage nach ihrer Gültigkeit sie bereits notwendig 
voraussetzen muß. 
Zu ihnen gehört das reine Sollen, die Pflicht und der objektive 
Wert, ein Begriffstripel, das sich wechselseitig mit Notwendigkeit 
fordert und daher gegenseitig definiert, das also nicht über sich selbst 
hinauszuführen vermag zu höheren begründenden Prinzipien. Die 
Definition des Sollens kann also immer nur in der Aufzeigung seiner 
Relationen zum Pflicht- und Wertbegriff gesehen werden. Nachdem 
daher Kant den korrelativen Zusammenhang zwischen Sollen und 
Pflicht nachgewiesen hat, sind weitere Inhaltsbestimmungen über- 
flüssig, so daß ihm als nähere Begrenzung des Prinzips des Sitten- 
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