Full text: Kant

15. Die Lehre vom Zweck 
1. Der Primat der praktischen Vernunft hatte die einzelnen Gebiete 
des Kulturbewußtseins an seinem höchsten Punkte zur bewußtseins- 
gegliederten Einheit gebracht. In der Kunsttheorie hatte die produk- 
tive Einbildungskraft, zusammen mit den richtunggebenden Bildungs- 
energien der ästhetischen Ideen einen weiteren bedeutsamen Schritt 
zur Bestimmung des Kulturbewußtseins getan, indem sie nicht nur 
ein weiteres Gültigkeitsgebiet, das letzte der großen Grundwertgebiete, 
dem Kulturbewußtsein einverleibte, sondern sie wußte auch die tie- 
feren Regionen, die die Mannigfaltigkeit der Kultur aufnehmen, und 
damit die Gesamtstruktur zu erhellen. Im Kulturbewußtsein verknüp- 
fen sich sinnliche Anschauung mit begrifflicher Allgemeinheit, sofern 
es ein „Abbild“ der den Menschen umgebenden, ganz individuellen 
Wirklichkeit, bezogen auf die letzten Gültigkeitsmaßstäbe, zum Er- 
leben bringt. Allgemeine Sinnhaftigkeit und individuelle sinnliche 
Anschauung durchdringen sich im ästhetischen Gegenstande in eigen- 
tümlicher Weise und gleichen sich einander an, wobei die Anschau- 
ung die Führung hat. Diese Angleichung ist aber noch auf einem 
zweiten Wege möglich. Im vorigen Kapitel war bereits die Möglichkeit 
angedeutet, daß das Gefüge des Kulturbewußtseins sich auch von 
einer Seite betrachten läßt, bei der begriffliches Sein die Leitung über- 
nimmt. Das Kulturbewußtsein als die bewußtheitsgegliederte Einheit 
der Kulturwerte enthält als ein wesentliches Sinnmoment die Ver- 
wirklichungstendenz der Werte. Wertverwirklichung aber birgt in 
sich die normative Zielfunktion der Wertordnung gegenüber allem 
einzelnen Wirklichen. Trägt man dieses gleichsam in die Bewußtheits- 
kontinuität ein, so präsentiert es sich im Bewußtsein als sinnliche 
Einzelanschauung. Da der Wert Gültiges, begrifflich fixierte Sinnein- 
heit ist, so fordert jetzt also das Gefüge des Kulturbewußtseins die 
Leitfunktion des Begriffs gegenüber der Anschauung, so daß Gültiges, 
gültiger Sinn, eine praktisch zu verstehende Gestaltungsfunktion 
gegenüber der das Wirkliche darstellenden Anschauung ausübt. Schon 
innerhalb der Voraussetzungen der Moralphilosophie hatte sich ja 
herausgestellt, daß der Träger aller Wertverwirklichung, also der ge- 
sollten Beziehung zwischen dem Reich der Natur und dem Reich der 
Freiheit das Bewußtseinsich sein muß. 
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