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und zu allermeist in Lybien. Willst Du es daher tiefer
bedenken, so war Sokrates, als er das Urteil eines
Physiognomikers bestätigte, der ihm einen natürlichen
Hang zu der schmutzigen Knabenliebe zuschrieb, so weit
entfernt damit eine Schande von sich aufzudecken, dass
er vielmehr eben deshalb ein grösseres Verdienst seiner
Enthaltsamkeit für sich beanspruchen wollte. Wenn Du
also bedenkst, o Müsse, was hier alles zu bedenken ist,
so wirst Du finden, dass die Menschen in Deinem goldenen
Zeitalter deshalb noch lange nicht tugendhaft waren, weil
sie nicht so lasterhaft waren, wie heutzutage; sintemal
noch ein grosser Unterschied besteht zwischen
Nichtlasterhaftsein und Tugendhaftsein, und das
eine keineswegs ohne weiteres aus dem anderen folgt. Denn
da, wo nicht dieselben Bestrebungen, dieselben Anlagen,
Neigungen und Temperamente vorhanden sind, sind auch
die Tugenden nicht dieselben. Andernfalls könnte eine
alberne und pferdemässige Vergleichung gar leicht zu dem
Urteil kommen, dass die Barbaren und Wilden sich mit
Recht für besser halten dürften, als wir Götter selber,
weil sie nicht mit denselben Sünden behaftet sind, und
dass hinwiederum die Tiere, die sich noch weniger durch
solche Laster auszeichnen, als sie, auch um so viel voll
kommener wären ^ als sie. Euch beiden also, Müssiggang
und Schlaf, mit eurem goldenen Zeitalter, Euch kann
man wol einräumen, dass Ihr nicht immer und in jeder
Hinsicht lasterhaft seid, aber nimmermehr und in keiner
Beziehung wird man Euch zugeben, dass Ihr Tugenden
seid. Erst, wenn Du, o Schlaf, nicht mehr schlafen, und
Du, o Müssiggang, nicht mehr müssig gehen, sondern
thätig sein wirst, werden wir Euch unter die Tugenden
einreihen und an den Himmel erhöhen.
b. Auftreten des Schlafgottes.
Jetzt machte der Gott des Schlafes ein Schrittehen
vorwärts und rieb sich ein wenig die Augen, um auch für
seine Person ein Wörtchen zu sagen und einen kleinen
Antrag vor dem hohen Senat zustellen, damit er doch nicht