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Die wissenschaftlichen Grundlagen der Geländedarstellung.
Italiener, Belgier, Engländer, Schweden, Norweger und Russen an, unter denen nur
die Franzosen sich zu einem eignen Schraffensystem durchzuringen suchten, während
die andern ganz in deutschem Fahrwasser segeln.
Auf die Einwände, die man der Lehmannschen Schraffe gegenüber erhoben
hat, will ich nicht noch einmal eingehen, da ich sie als genügend berücksichtigt er
achte. Ich spreche hier mehr von allgemein wissenschaftlichem und kulturhisto
rischem Standpunkte, und allein über die Вöschungsschraffe, denn als Schatten-
schraffe und Darstellungsmittel für irreguläre Formen, wie Brüche, Spalten, Felsen,
wird die Schraffe so lange gebraucht werden, wie noch ein Mensch Karten zeichnet.
Ähnliche Gedanken, wie ich hier entwickle, hat J. J. Pauliny in seinem Mémoire
über eine neue Situationspläne- und Landkarten-Darstellungsmethode 1 in weit
schärferer Weise zum Ausdruck gebracht: „Allenthalben hat man sich des Schraf-
fierens schon entledigt. Die Tage der Schraffen sind gezählt. Diese überaus lang
atmige, mühsame, kostspielige, fast könnte man sagen, undankbare Arbeit (längst
schon von Fachmännern ersten Ranges als eine Versündigung an der menschlichen
Arbeitskraft gescholten), steht nicht im Einklänge mit den allgemein raschem Be
wegungen des Fortschrittes der Gegenwart und ihren gegen früher weit höher ge
stellten, praktischen Anforderungen der Neuzeit auf allen Gebieten der Kunst und
Wissenschaft, des Gewerbes und der Industrie.“ 1 2
Die wissenschaftliche Schraffe, wie sie Lehmann inauguriert hatte, ist ein Kind
ihrer Zeit, also auch mit all den Tugenden und Untugenden dieser Zeit behaftet. Aus
militärischem Geist geboren, stirbt sie mit ihm, d. h. mit der Periode, wo das Militär
das offizielle Kartenwesen nicht mehr ausschließlich beherrscht. In diese Epoche
sind wir jetzt eingetreten. Schon um die Mitte des vergangenen Jahrhunderts klagten
selbst militärkartographische Schriftsteller und Praktiker, wie Streffleur, Chauvin
u. a. darüber, daß die Schraffe ihre Macht lediglich durch die Bevorzugung von
militärischer Seite erlangt habe. Sicher ist, daß sie als Böschungsschraffe durchaus
militärwissenschaftlichen Geist atmet. Auf den von militärischen Auspizien her-
gestellten Kartenwerken hat sie ihre größten Triumphe gefeiert. Andere Zeiten,
andere Anforderungen! Nur ein sehr reicher Staat könnte sich heute den Imxus
gestatten, eine großmaßstabige Karte eines weiten Gebietes in Schraffen heraus
zugeben. Die Zeit ist zu kostbar geworden, als mit dem Stich eines solchen Werkes
Jahrzehnte zu verplempern. Gesetzt, Zeit wäre noch genügend vorhanden, so sind
loch jetzt wahrlich andere Darstellungs- und Reproduktionsmethoden entstanden,
lie die Gewähr für ein besseres und wissenschaftlicheres Kartenbild geben als die
behmannschen Schraffen.
Selbst in ihrer „Wissenschaftlichkeit“ birgt die Böschungsschraffe einen Todes
keim. Auf der einen Seite entwickelt Lehmann das physikalische Gesetz von der
Abtönung schräg gestellter Flächen, und auf der andern verwirft er es im Nu und
bringt eine Skala, deren Verhältnis von Schwarz zu Weiß ganz in arithmetischer
Progression gegeben wird. Ich kann mir nicht denken, daß er aus reiner Liebe zu
einem einfachen Aufbau der Schwarzweißreihe die arithmetische Progression ge-
1 J. J. Pauliny: Streffleurs Österreich. Militär-Z. IV. Wien 1895, S. 66ff.
2 Nach diesen Ausführungen müßte man erwarten, daßPauliny die Lehmannsche Böschungs
schraffe in Grund und Boden verdamme; indessen lesen wir auf S. 84 der eben zitierten Schrift, daß
die Schraffierung „prägnant, scharf ausgedrückt, bestimmt und markant“ ist. Also auch er steht
trotz seiner neuen Geländedarstellungsmethode noch im Banne der Lehmannscrxen Schraffen.