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Leibniz
schen Mitteilungen seine Begeisterung für den Gegenstand. Schon 1673
beschäftigte er sich außer mit Quadraturen auch mit dem Tangenten
problem, und 1675 war er schon so weit, daß er die beiden jetzt in
der ganzen Welt benutzten Operationszeichen d und/einführte. Das
war ein Schritt von der allergrößten Bedeutung. Mit Recht sagt
Leibniz später in einem Briefe an denNarquw äs 1'üöpltal(l693),
daß ein Teil des Geheimnisses der Analysis in der Bezeichnungsweise
liegt, und er hat auch bei vielen anderen Gelegenheiten die Wichtigkeit
einer zweckmäßigen Symbolik betont?) Man kann mit einiger Sicher
heit den Tag angeben, an welchem Leibniz zum ersten Male die
beiden Symbole d und snebeneinander benutzte. Es ist der 29. Oktober
167». Leibniz ging sogleich daran, die einfachsten Regeln für das
Rechnen mit diesen Symbolen aufzusuchen?) Er war sich bewußt eine
neue Rechnungsart (novum genus calculi, wie er selbst sagt), gefunden
zu haben und erkannte die große Tragweite derselben. Und gerade
dies gibt uns das Recht, ihn für den wahren Erfinder der Infinite
simalrechnung zu halten. Man muß zugeben, daß Leibniz sich an
verschiedenen Stellen nicht klar darüber ausspricht, was seine Diffe
rentiale eigentlich bedeuten. Aber in seiner ersten Publikation über die
Differentialrechnung, die 1684 in den ^.eta sruäitoium erfolgte, finden
wir im Anfang die Differentiale genau so definiert, wie wir sie jetzt
definieren. Es heißt dort wörtlich: „Gegeben sei eine Achse AX uni)
mehrere Kurven VV, WW, YY, ZZ. Ihre zur Achse senkrechten
Ordinaten VX, WX, YX, ZX, wollen wir mit v, w, y, z bezeichnen,
den Abschnitt AX aus der Achse mit x. Die Tangenten seien VB,
WC, YD, ZE. Sie mögen die Achse bezüglich in B, C, D, E treffen.
Nunmehr wollen wir mit dx eine beliebig angenommene Strecke be
zeichnen und die Strecke, welche sich zu dx verhält wie v (ober wo der r,
oder z) zu XB (oder XC oder XD oder XE), mit dv (oder dw
oder dy oder dz) ..."
1) Am 26. März 1676 schreibt er: Illustribus exemplis quotidie diaco,
omnem solvendi pariter problemata et inveniendi theoremata artem,
tune cum res ipsa Imagination! non subjacet aut nimis vssta est, eo
redire, ut characteribus sive compendiis Imagination! subjiciatur, at-
que quae pingi non posaunt, qualia sunt intelligibilia, ea pingantur
tarnen hieroglyphica quadam ratione, sed eadem et pbilosophica.
Quod fit, ai non ut pictores, mystae aut Sinenses similitudines quas-
dam sectemur, sed rei ipsins ideam «equamur.
8) Am 2i. November 1676 fand er die Formel d{uv) »= udv -f vdu.
ANuB!S7: KowalewSki. Infinitesimalrechnung s. Aufl. 7