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Stereoskopisches Sehen im vollen SinnS des Wortes
ist einem Automaten grundsätzlich versagt, da es ein Be
wußtsein voraussetzt, das die optischen Wahrnehmungen
der beiden Augen in anschauliche, räumliche Vorstellun
gen umwandelt. Mit der Konstruktion des Stereomaten
durch Hobrough ist allerdings gezeigt worden, daß ein
für die Zwecke der Stereokartierung ausreichender Er
satz für das stereoskopische Sehen geschaffen werden
kann. Der entscheidende Bestandteil des Stereomaten ist
eine elektronische Schaltung, welche die beste mögliche
Korrelation einander entsprechender Bildteile in Stereo
bildern ermittelt.
2.2. Gedächtnisleistungen. Wir wissen aus Erfah
rung, daß die Speicherfähigkeit des menschlichen Ge
hirnes für Wahrnehmungen und Bewußtseinsinhalte jeder
Art außerordentlich groß ist. Über den Mechanismus der
Gedächtnisfunktionen beim Menschen ist trotz intensiver
Forschungen in den letzten Jahrzehnten noch wenig Si
cheres bekannt. Es hat sich aber gezeigt, daß die Erfah
rungen bei der Entwicklung technischer Speicheranlagen
(z. B. für Rechenautomaten) wertvolle Hilfen bieten bei
der Erforschung der Struktur und Funktion biologischer
Speichersysteme. Wir verzichten darauf, die heute als ge
sichert geltenden Ergebnisse der neurophysiologischen
Forschung zu schildern, und beschränken uns auch hier
darauf, die Leistungsgrenzen anzugeben.
Ähnliche Verhältnisse wie beim Auge, dessen lichtempfind
liche Elemente, die Zäpfchen und Stäbchen der Netzhaut,
um viele Größenordnungen kleiner sind als die kleinsten
technischen Fotoelemente, bestehen auch bei den Schalt
elementen des menschlichen Gedächtnisses, den Neu
ronen. Ihre Größenabmessungen liegen zwischen 10" 8 und
10~ 5 cm 3 , während die kleinsten technischen Speicherele
mente Größen zwischen 10 2 und 10 1 cm 3 besitzen. Wir
dürfen auch nicht übersehen, daß ein Neuron funktionell
erheblich mehr leistet als die typischen technischen
Schaltelemente. In dem vergleichsweise kleinen Volumen
des zentralen Nervensystems sind 10 10 Neuronen unter
gebracht, während die Größenordnung der Speicher
schaltelemente in Rechenanlagen heute nur 10 4 beträgt.
Wegen der sehr großen Anzahl von 10 8 als Rezeptoren für
Sinneseindrücke wirkender Sinneszellen hat die Kapazität
der Ein- und Ausgabe des menschlichen Gedächtnisses
den unvorstellbar hohen Wert von 10 9 bit/s (gegenüber
10 2 . . . 10 6 bit/s bei Rechenautomaten). Die Zugriffzeiten
zu den im Gedächtnis gespeicherten Daten sind wegen der
relativ geringen Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Ner-
venimpulse in den Nervenfasern von 60 m/s mit 10~ 2 . . .
10 1 s relativ groß gegenüber den bei Rechenautomaten
erreichten Werten von minimal 10“ 8 s.
Die Gesamtkapazität des (unbewußten oder vorbewußten)
menschlichen Gedächtnisses beträgt nach den heutigen
Kenntnissen 10 10 . . . 10 13 bit, wovon etwa 4 • 10 6 bit
allein für die Beherrschung der Muttersprache gebraucht
werden. (Großspeicher heutiger Rechenanlagen haben
Kapazitäten bis zu etwa 10 8 bit.) Es ist interessant, daß
der Mensch nach Frank [3] einen Kurzspeicher besitzt,
der Informationen bei einer größten Zuflußgeschwindig
keit von 16 bit/s bis zu 10 s lang zu speichern vermag
(Kapazität daher etwa 160 bit). Die menschliche „Gegen
[3] Frank, H.: Kybernetische Grundlagen der Pädagogik. Baden-
Baden: Agis-Verl. 1962.
wart“ dauert in diesem Sinne 10 s; danach gehen die Da
ten aus dem Kurzspeicher (teilweise) in das unbewußte
Gedächtnis über.
2.3. Logische Operationen. Alles Denken und Han
deln des messenden Menschen ist von einer sehr großen
Anzahl von logischen Operationen begleitet, von denen
nur ein kleiner Teil in das Bewußtsein gelangt. Wir haben
oben schon erwähnt, daß die Neurophysiologen bei ihren
Forschungen teilweise sehr enge Analogien zwischen den
logischen Schaltungen im Nervensystem und in den tech
nischen Systemen entdeckt haben. Diese strukturellen
Ähnlichkeiten rechtfertigen vergleichende quantitative
Abschätzungen. Den mikroskopisch kleinen Raumbedarf
der Neuronen haben wir oben schon erwähnt. Auch die
auf die Transistortechnik folgende nächste Stufe der
Elektronik, die eine „Miniaturisierung“ der Schaltele
mente mittels Aufdampfens dünner Schichten erreicht,
wird nach K. Steinbuch [4] bis 1970 keine größere Pak-
kungsdichte der Schaltelemente als etwa 1000/cm 3 er
reicht haben. Die Natur baut dann immer noch 10 5 mal
kleiner! Es ist plausibel, daß auch der Energiebedarf
für die Schaltungen im biologischen System etwa um den
selben Faktor kleiner ist als im heute günstigsten techni
schen System; er wird bei Neuronen auf 10“ 10 Watt ge
schätzt.
Daß die Funktionszeiten der biologischen Systeme
denjenigen der technischen Systeme unterlegen sind, hat
ten wir oben schon erwähnt. Das Verhältnis gegenüber
elektronischen Schaltungen ist heute etwa 10 3 :1. Hin
sichtlich der Ermüdung unterlag die Natur bereits den
einfachsten und ältesten mechanischen Einrichtungen wie
Wasserschöpfanlagen, ganz zu schweigen von der Dampf
maschine und dem Elektromotor. Elektromechanische
Relais sollen bei einwandfreier Behandlung bis zu 10 8
Schaltungen ohne Ausfall aushalten; bei Transistoren tre
ten grundsätzlich überhaupt keine zeitlichen Funktions
änderungen ein. Das menschliche Nervensystem kann
demgegenüber bei heftiger Schockeinwirkung bereits nach
Sekunden versagen; spätestens nach einigen Stunden
braucht es eine Erholungspause.
2.4. Lernfähigkeit. Daß das Lernenkönnen eines
Automaten auch für seine Verwendung in der Vermes
sungstechnik von großem Nutzen sein kann, braucht wohl
nicht durch Beispiele erhärtet zu werden. Das Lernen ist
eine schwierig allgemein definierbare, anscheinend dem
Menschen vorbehaltene Leistung. Wir lernen Vokabeln
(durch reines Speichern), wir lernen uns „richtig“ zu be
nehmen (durch Nachahmen), wir lernen Geschichte (durch
Belehrung), wir lernen in einer Großstadt den günstigsten
Weg zu einem Ziel finden (durch Erfahrung, d. h.
durch Erfolg und Mißerfolg). Es zeigt sich, daß die zuerst
genannten Leistungen wesentlich Gedächtnisleistungen
sind, die einem Automaten mit einem hinreichend großen
Speicher grundsätzlich zugänglich sind. Die Tatsache, daß
N. Wiener 1949 ein bewegliches Modell angab, das je
nach seiner Schaltung als „Motte“ oder „Wanze“ in eine
(bewegliche) Lichtquelle hinein oder von dieser fortlief,
beweist, daß auch andere Lern Vorgänge, denen Erfahrun
gen zugrunde liegen, von Automaten übernommen wer
den können. Noch anschaulicher wurde das später durch
[4] Steinbuch, K.: a. a. O. [2].