Full text: Die geistige Botschaft romanischer Bauplastik

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die Beinstellung ist für ein Vorwärtsschreiten, gar ein Traben, unmög— 
lich. Es ist ein Liegen wie bei den Tieren der Südseite (siehe obenh. 
Das Tier ruht. Aber es wacht, ist Sinnbild der Wachsamkeit. Die Ein— 
zahl des Tieres bedeutet Einsamkeit, das Tier wacht für das inende 
Rudel. („Schlummert wachsam, wie die Gemse schläft!“ sagt Hans Ca— 
rossa in seinem rumänischen Tagebuch. Das Bild der Gemse fordert zur 
Wachsamkeit auf: „Die Nacht ist des Menschen Feind“ 
Das Sonnenrad. Westlich von der nördl. Mittelfigur ist wie ein 
vierspeichiges Rad mit deutlicher Achsennabe, das Radkreuz eiwas schief 
gestellt, also Umlauf anzeigenoͤ. Das ist kein Kreugznimbus, sondern das 
uralte Sinnbild der Sonne, die im Norden „schlafen gegangen“ ist; aber 
sie bleibt in Bewegung, läuft, oder wirodͤ getragen, gezogen, gefahren 
unter der Erde oder dem Meere hin nach Osten, um wieder aufzugehen. 
Jetzt ist sie im Bereiche der Nacht, der Unterwelt, des Rordeus Das 
Sonnenrad besitzt Abwehrkaft, selne Verwendung geht in früheste Zei⸗ 
ten zurück. Am fünften Stockwerk des Südturms war (Greiner, S. 46) 
eine Sonnenuhr, damit die waltende Sonne die Stunden des Tages 
angebe. Dort im Süden in der Höhe schwebend, ist sie hier im Norden 
zum Juß des dritten Stockwerkes herabgesunken, um im Bereiche der 
Nacht zu ruhen. Diese Gegensätzlichkeit kann veraulaßt haben, das Son— 
nenrad am nördlichen Fries anzubringen. 
„Die Betfigur. Auf das Rad folgt eine nackte (7), menschliche Halb⸗ 
figur mit vor der Brust zum Gebet zusammengelegten Händen. Va sie 
nicht zum Rade hinblickt, sondern aufwärts, nehme ich sie nicht mehr 
als Anbeterin der Sonne. Sie ist das Gegenstück zur wachsamen Gemfe, 
mit dieser eine Darstellung zum Herrenwort: „Wachet und betet.“ 
(Matth. 26, 41). Eine Mer hengestast wurde statt eines Tierbildes ge— 
wählt, weil die Gemse wachen, der Mensch aber beten kann. Diese Per⸗ 
son, gleichviel, ob männlich oder weiblich, betet nachts, in der Nacht⸗ 
ruhe; man lag damals nackt oder mit ärmellosem, Nachtgewand im 
Bette. Das mitkternächtliche Chorgebet war in den meisten Orden üblich. 
Zu sgen m gua sung 
Die vorhandenen drei Bildflächen sind Einheiten, drei Teile eines 
vierseitigen Programms, das dem Tageslauf dber Sonne entsprechend 
von Osten über Süden und Westen zum Norden abzulesen ist. Ob man 
nun sagt, es ist jedesmal ein Bild der Sonne in der der Tageszeit ent⸗ 
sprechenden Tätigkeit, oder die Tageszeiten sind in menschlicher Gestalt 
und Tätigkeit, oder die Menschen in ihrem Verhalten in den Tageszei⸗ 
ten dargestellt, oder es sind die Himmelsrichtuͤngen Süden, Westen, 
Norden in menschlicher Darstellung gegeben, die ja auch Morgen, Mit— 
kag, Abend und Mitternacht heißen, der Sinn und der gedankliche Zu— 
sammenhang ist ganz der gleiche. gabht nicht notwendig, in dieses Bild⸗ 
werk eine fromme, theologische Symbolik hineinzudeuͤten. 
Der Süäüden: der Mensch ist bedrückt von der Last und Hitze des 
Mittags, die Tiere ruhen. 
Der Westen: der Mensch ist müde, der Feierabend ist nah; die 
Tiexe weiden und trinken (der Westen bringt Wasser, Regen). 
„Dex Nor den; der Man ruht wachsam. Die Geinfe und die Bet— 
figur bedeuten: Wachet und betet. Das Rad ist die untergegangene 
Sonne, die im Osten wieder aufgehen wird. 
Der Osten: ein Fries ist durch einen Löwen am Nordosteck ange— 
deutet, angefangen. Als Mittelfigur dürfen wir vielleicht einen beten— 
den Mann annehmen, am St. Jakobsporial in Regensburg (siehe mein 
„Schottentor“, S. 14) kniet die Gestalt des Ostens, hält die Hände nach 
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