Full text: Die geistige Botschaft romanischer Bauplastik

ist unbekannt. Als Entstehungszeit wird die Wende des dreizehnten 
Jahrhunderts angenommen. Das Kastenbild mit dem ganz verun— 
— nördlichen Schiffsaußenwand ist nicht älter. 
Deutungsverfuchen steht die Ungewißheit über den ursprünglichen 
Bestand im — Falsch aber ist jeder Versuch, der von Voraus⸗ 
setzungen und, Absichten geleitet ist; sei es, daß altgermanische oder 
christliche Vorstellungen hineingedeutet werden; es handelt sich bei der 
Ausdeutung nicht darum, einen Inhalt aufzuzwingen, sondern sich mit 
dem zu bescheiden, was die Bilder andeuten und aussagen. In meinem 
Buche „Das Schottentox“ (Jakobskirche in Regensburg, S. 11/12) 
habe ich eine Erklärung dieser Tübinger Bildwerke versucht, aber die 
eitdem gewonnene zehnjährige Erfahrung nötigt zur „Wiederauf⸗ 
nahme des Verfahrens“. Das Wesentliche bleibt bestehen, die Tübinger 
Bilder stellen die Himmelsrichtungen dar, sagen, was die Sonne zur 
entsprechenden Tageszeit tut. 
Der Sühden. Eine Scheibe aus mehreren Kreiswülsten, unten ein 
ockelartiger Ansatz, ein Hals, neben dem beiderseits an den äußersten 
Kreis gebogene Arme angesetzt sind, deren Hände nach oben greifend 
den oberen Rand des Steines berühren. Die Ringe an den Handgelen⸗ 
ken kommen in Buchmalerei und Plastik der romanischen Periode, auch 
am Chriftusbilde des Tympanons des Schottentors in Regensburg, an 
vielen Heiligenbildern vor; sie sind nichtis anderes als Falten enger 
Armel, die zurückgeschoben sind, bei Kälte über die Hände geßsogen wer— 
den können (also nichts Heidnisches). Menschenköpfe mit ebenso ange— 
setzten Armen sind im Biidwerk des Taufsteins in Freudenstadt und 
über den Fenstern der Apsis in Schöngrabern. Nehmen wir nun an, 
die Scheibe stelle die Sonne dar, was tut dann hier die Sonne? Sie he— 
rührt die oberste Grenze ihres Aufstiegs, den Scheitel des Himmels. 
Ossten. War das Bild der Mittagssonne an der Südseite des goti⸗ 
schen Chores über dem Kaffgesims, also hochstehend eingesetzt, so befin⸗ 
det sich das der Morgensonne, zwar nicht an der Ostseite, aber in der 
Reihe der an der Noͤrdseite angebrachten Bilder an der ersten Stelle, 
oͤstlich von den folgenden. Und es wurde nicht in der Höhe, wie es dem 
füdlichen Stande entsprach, sondern am Sockel eingesetzt, weil die Sonne 
im Osten über dem Horizont heraufkommt. Ein mehrfacher Kreiswulst 
erhebt sich über einen rechteckigen Eockel. Die Sonne geht auf, steigt auf 
threr Bahn empor. 
Westen. Auf das Bild des Ostens folgt gegen Westen hin am glei— 
chen Sockel des Chors das der untergehenden Sonne. Ein mehrfacher 
konzentrischer Wulst ist breitgedrückt. Der Balken dahinter ist oben 
höher als unter der Scheibe. Neben dem unteren Balkenstücke sind 
schiefe Ansätze, vielleicht Arme andeutend: die Sonne „schlieft in die 
Berge“, fagte man im Mittelalter, sie ist müde, geht unter. 
NRorden. Für diese Himmelsrichtung sind zwei Darstellungen an 
der Nordwand des Langhauses raeeßt worden: zuerst vom Chore 
her ein Kastenrelief, dann ein Stein mit schmalem Wulstkreis, in den 
An gleichschenkeliges Kreuz eingeritzt ist, das Sonnenrad. Auch am Eu— 
lentuürm in Hirsau befindet sich auf der Nordseite das Sonnenrad. Die 
Deutung auf ein Bild des Heidentums (Schottentor, S. 11) aufgebend 
sowohl für Hirsau als für Tübingen), erkläre ich dieses Sonnenrad 
für das Bild der untergegangenen Sonne, das Sinnbild der Mitter— 
nacht. Denn hier ist es in gegensätzlicher Beziehung zu den Ringschei⸗— 
ben der leuchtenden Morgen⸗-, Mittags- und psee gewählt wor⸗ 
den. Diesen Sinn deutlich zu machen ist das Relief mit dem unbe— 
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