Evangelisten auf die Himmelsrichtungen ist in der romanischen Kunst
keine einheitliche. Hier nimmt Matthäus (Mensch) die nordöstliche,
Markus (Löwes die südwestliche, Lukas (Stier) die nordwestliche, Jo—
hannes (Adler) die südöstliche Ecke ein. Sagen wir kürzer und in der
Reihenfolge der Himmelsrichtungen: im Osten Johannes, im Süden
Markus, im Westen Lukas, im Norden Matthäus. Die Kapitelle tragen
figürlichen Schmuck, der jedoch keinen Bezug hat auf die Symbole der
Evangekisten. Auch läßt sich ohne Zwang keine Gedankeunreihe aller
vier Darstellungen ablesen. Dagegen stehen in deutlicher Antithese das
füdliche mit dem westlichen, das östliche mit dem nördlichen Kapitell;
die inhaltliche Zusammengehörigkeit gibt sich zu erkennen, indem das
zstliche Paar (Norden und Osten) figuüͤrliche Darstellungen gegenüber—
tellt, das westliche Paar nur einen Kopf am Eckvorsprung mit beider—
seitigem Rankenornament aufweist.
Uüber dem Stier des hl. Lukas (Westen) ist ein bärtiger Kopf, über
dessen Stirne sich das bandartige Haar scheitelt und in das Ranken—
ornament mit zwei Strähnen übergeht. Ebenso gehen auch die Bart—
strähnen bandförmig von der Unterlippe weg beiderseits in das Ran—
kenornament über. Dieses besteht aus aufsteigenden, durch Fesseln ge—
hzundenen Spiralen, die entgegengesetzt verlaufen und zwei Reihen
übereinander bilden. Diese Ranken tragen keine Blätter, haben nichts
pflanzliches, kein Anzeichen von Leben an sich. In der romanischen Or—
namentsymbolik haben folche auflodernde, spiralige Formen die Be—
deutung von Feuerflammen. Der Kopf, dessen Haar und Bart in diese
Flammen einbezogen sind, deutet einen den Flammen der Hölle ver—
fallenen Menschen an. Im Westen ist Weltgericht und Hölle. überzeu—
gender wird diese Auslegung durch die Antithese.
Uber dem Löwen des hl. Markus (Süden) ist das Kapitell dem so—
eben besprochenen westlichen so ähnlich, daß erst bei genauerer Betrach—
tung auffällt, daß ein genug sagender Unterschied vorliegt. Daß der
Eckkopf etwas größer ist, will nichts besagen. Aber die zum Bandorna⸗—
ment hinübergezogenen Haar- und Bartsträhnen und das Haar auf
dem Haupt ist nicht, wie am westlichen Kapitell, glatt und den Orna—
mentranken gleichgestaltig, sondern eng geoͤreht, und geht nicht in die
Spiralen über, sondern wird durch Fesseln mit den Ranken verbunden.
Auch dieser Mensch ist von Flammen umgeben und gehört ihnen an.
Die Haar- und Barttracht deutet den Charakter dieses Menschen an.
(Es sei hier auf die Ausführungen in meinem „Schottentor“ S. 45 hin⸗—
gewiesen.) Eine von den Gauklern und Modenarren um 1200 beliebte
Art war es, das Haar und den Bart in viele Zöpfe zu flechten. (Vergl.
dazu Abb. 23 a. a. O., den Gaukler am Portal von Isen.) Es handelt
sich demnach hier um einen Weltmenschen, der sich den Leidenschaften
hingegeben hat. Süden bedeutete Sonne und Feuer, Hitze heftige Lei—
denschaft (daemonium meridianum — Ps. 90, 6; Sauer, Symbolik des
Kirchengebäudes, Freiburg, 1924, S. 90 und 93). Somit sind auch die
Flammenspiralen erklärt, die, weil die Leidenschaften „vom Teufel
angefacht“ werden, in ihrer Darstellung nicht von den höllischen Flam—
men (des Westkapitells) unterschieden zu sein brauchen. Es sei noch
daran erinnert, daß auch die südliche Bildfläche der Apsis der Sünde
gewidmet ist. Die Kapitelle des Südens und Westens stellen Sünden—
leben und Höllenstrafe gegenüber.
Norden und Westen werden wegen Sonnenuntergang und Nacht
auf Tod und Hölle bezogen, Osten und Süden auf Leben. So stehen die
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