$ 110. Elektrotonische Zustände am lebenden Menschen. 277
Modifikation hindurch in eine anhaltende positive Modifikation über,
deren absoluter Wert und deren Dauer der angewendeten Stromstärke
proportional ist. Der anelektrotonische Zustand geht nach der Oeffnung
des Stromes direkt in eine positive Modifikation über, welche sich in
ihrer Grösse ebenfalls nach der Stromstärke und der Dauer des
Stromes richtet. Näher auf diese Verhältnisse und namentlich auf
die oft sich widersprechenden Versuche und Versuchsergebnisse der
oben genannten Autoren einzugehen, welche meist mit Hilfe des
Induktionsstroms die während des Fliessens des konstanten
Stroms an den verschiedenen Polen etwa zu Stande gekommenen
positiven und negativen Modifikationen am Nerven des lebenden
Menschen untersuchten, scheint hier nicht der Ort.
Wohl aber glauben wir hier noch kurz die von Waller und
de Watteville’® in London „Ueber den Einfluss des galvanischen
Stroms auf die Erregbarkeit der motorischen Nerven des Menschen“
neuerdings angestellten Versuche anführen zu müssen, da jene Autoren
in ihren Experimenten ein genaues Zusammenfallen der Stellen für
die Polarisation und derjenigen für die Reizung herbeiführten und zu
diesem Zweck den polarisirenden und den prüfenden Strom in einen
Kreis vereinigten. Sie gingen von den oben schon (S. 271) erörterten
Gesichtspunkten aus, dass bei Applikation einer Elektrode auf die
Haut über einem Nerven, sich unmittelbar unter der Elektrode im
Nerven eine polare (Vorzeichen identisch mit der Elektrode) Zone
entwickelt, während zu beiden Seiten dieser Stelle (peripolar, wie
schon Filehne nachwies) sich eine Zone herstellt, welche die ent-
gegengesetzten Vorzeichen trägt. Natürlich ist die Dichtigkeit in der
polaren Zone grösser, als in den peripolaren Zonen, welche unter dem
Einfluss sogenannter „virtueller“ Elektroden stehen. Wenngleich
die Erscheinungen während .des Fliessens eines Stromes praktisch und
therapeutisch relativ viel weniger interessant sind, als die nach der
Applikation des Stromes zurückbleibenden Modifikationen der Erreg-
barkeit, so wollen wir doch die Endergebnisse der Waller-Watte-
ville’schen Versuche hier kurz mitteilen: 1) Während des Fliessens
des galvanischen Stromes ist die (polare oder peripolare) Kathoden-
zone in einem Zustand gesteigerter Erregbarkeit, die (polare oder
peripolare) Anodenzone in einem Zustand herabgesetzter Erregbarkeit.
2) Steigt die Stärke eines polarisirenden Stromes über ein gewisses
Mass, so scheint die katelektrotonische Region (im physiologischen
Sinne) sich über die anelektrotonische auszudehnen. 3) Nach Unter-
brechung des Stromes macht in der katelektrotonischen Gegend die