Full text: Die geistige Botschaft romanischer Bauplastik

Kapitelle am Eingang zum Altarraum zueinander in ähnlichem Ge— 
gensatz wie die der Wesfseite. 
Über dem Adler des hl. Johannes (Osten) ist an der Kapitellecke ein 
Widderkopf. Gegen ihn schreiten von beiden Seiten her wolfartige 
Tiere mit offenen Rachen. Die Zwei bedeuten, wenn nicht durch Unter— 
schiedsmerkmale eine besondere Absicht nahegelegt wird, eine Vielheit 
von gleichartigen Wesen, hier von Wölfen oder Hunden. Bild und Ge— 
danke ist aus dem Psalmwort entnommen: „Es umgaben mich viele 
Hunde“ (21, 17). Das kann von Versuchungen des Teufels und von 
Anfeindungen der Menschen verstanden, auf Christus oder auf den 
Christen bezogen werden. Der Widderkopf stellt den Bedrängten dar, 
Christus als Sündenbock der ganzen Welt, oder als Lamm Gottes; 
nicht selten wird das Lamm (mit Fahnenkreuz) in romanischen Sitein— 
bildern gehörnt dargestellt, wo ihm feindliche Mächte in Gestalt von 
Tieren oder Symbolen des Bösen gegenübergestelli find. Dann kann 
aber der Widder auch den Zuͤnger Christi, den Christen bedeuten, der 
pon Feinden seines Heils bedrohl wird. Weilt nun die Antibese Linca 
Menschen zeigt, muß hier geschloffen werden, daß es sich um einen Men— 
schen in Bedrängnis handelt, und weil das Bild auf der Ost-Südseite 
sich befindet, um die Bedrohung in diesem, irdischen Leben. Der Zweck 
der Darstellung ist demnach zu mahnen, daß der Christ in Versuchung 
und Leid Christus nachahmen, vertrauen und ausharren soll. 
über dem menschlichen Symbol des hl. Matthäus (Norden) haben 
sich Löwen eines Menschen bemächtigt. Ein Löwe mit sehr großem Kopf 
hält diesen Menschen in seinem Rachen; der Mensch scheint kopfüber in 
den Rachen des Ungeheuers gestürzt zu sein. Sein Kopf schaut nach un⸗ 
ten, die Füße ragen oben heraus, die Arme strecken 4 nach beiden Sei— 
ten. Mit der linken Pranke faßt das Tier den Kopf des Menschen, dessen 
rechte Hand den Nacken des Löwen ergreift. Von der anderen Seite 
kommt ein ähnlicher Löwe, der mit seinem Gebiß den linken Arm des 
Opfers festhält. Der Löwe ist bekannt als Bild des Teufels, der „sucht, 
wen er verschlinge“. Es ist aber daran zu erinnern, daß dem Wittel 
alter Tod und Teufel gleichbedeutend waren. Der Löwe mit einem 
menschlichen oder tierischen Opfer zwischen den Pranken oder im Ra— 
hen stellt zunächst die unabwendbare Macht des Todes dar, der durch 
die Sünde, den Teufel, in die Welt gekommen ist. Der hier von Löwen 
ergriffene Mensch ist dem Tod verfallen, nicht unbedingt der Hölle. Der 
Teufel tötet den Leib, aber nicht in allen Fällen zieht er auch des Men— 
schen Seele ins Verderben. Das Bild ist auf das liturgische Gebet zu 
beziehen: „libera eas de ore leonis, ne absorbeat eas taͤrlarus, ne ca— 
dant in obscurum.“ Der Zweck der Darstellung ist Warnung vor dem 
Tod und Mahnung der Verstorbenen im Gebete zu gedenken. 
Die Kapitelle des Ostens und Nordens stellen den zeitlichen Prüfun⸗ 
gen dieses Lebens die unentrinnbare Gewalt des Todes gegenüber. 
Mit Vorliebe bringt die romanische Plastik dämonisch-schauerliche 
Bildgedanken an den von Gesimsen beschatteten Kapitellen, auch im 
Innenraum der Kirchen an. (Darüber in meinem Schottentor, S. 653 f.) 
Hier, im Chor der Kirche zu Schöngrabern, sind an den Kapitellen der 
Ecksäulen auf der Ostseite Leiden und Tod, auf der Westseite Sünden⸗ 
leben und Höllenstrafe vor Augen gestellt, das irdische Leben in Leiden 
oder in Sünden an der Südwand, Tod und Hölle an der Nordwand. Es 
ergibt sich, daß die Symbolik der Himmelsrichtung der Anordnung der 
Bildwerke zu Grunde gelegt ist. 
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