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Die See- und Meerkarte.
des Mittelmeergebiets, und auch die Rumbenkarten des spätem Mittelalters sind
keineswegs exotische Gewächse in der Pflanzschule der nautischen Kartographie. 1
Die gegenseitige Lage und die Wiedergabe der Küstenformen haben von jeher
die Bewunderung der Beschauer erregt. H. Wagner spricht sogar von „sehr richtigen
Küstenumrissen“. 1 2 So apodiktisch möchte ich dies nicht aussprechen; im allgemeinen
kann man wohl von einem annähernd richtigen Küstenzug reden, nicht aber im be-
sondern. Denn die gesamte Küstendarstellung ist zu manieriert, und in dieser Manier
vielfach falsch. Das Charakteristische der Küstenzeichnung jener Karten besteht
darin, daß Kreisbogen um Kreisbogen sich aneinanderreihen, meist von verschiedener
Größe, aber immerhin in der Ordnung, daß größere Bogen großem Hafenbuchten
in der Natur entsprechen. Auch läßt sich auf manchen Teilen der Rumbenkarten
die Tendenz nicht verkennen, lang gestreckte Küsten durch flache Bogen, wechsel
volle Steilküsten durch eine größere Anzahl von tiefem Bogen — bis 1 / 2 und 3 / 4 Kreis
bogen — darzustellen. Daß aber die Bogendarstellung oft recht mangelhaft war,
erkennt man aus der Tatsache, daß sich z. B. an einer reich gegliederten Küste kleine
Kreisbogen von gleicher Größe in einem fort wiederholen und das Küstenbild lang
weilig gestalten, wie z. B. die Südküste von Kleinasien auf einer Karte von Marino
Sanudo 1320. 3 Flußmündungen und Ankerstellen werden vielfach so dargestellt,
daß in einem flachen Bogen kleine Doppelstriche senkrecht eingeschnitten werden,
wie auf der Ostküste von Italien bei Petrus Yesconte 1811 oder auf der großen Rumben-
karte von Angelino Dulcert 1889. Je unbekannter die Küsten waren, desto fraglicher
wurde auch die Küsten- und Hafendarstellung, was sich in großen, flachen und wenig-
gegliederten Bogenstücken ausdrückt und in zuweilen merkwürdigen Beutelformen
der Häfen, wie auf dem sogenannten Portolano Laurenziano Gaddiano seu Atlante
Mediceo vom Jahre 1351.
Peinlich wurde darauf geachtet, daß die konkave Seite der Küstenbogen stets
nach dem Landinnern gekehrt ist, mochte eine natürliche Küstenform auch sonst
zum konvexen Bogen drängen. Dieser Typus der Küstenzeichnung bleibt auf den
Rumbenkarten von 1300—1600, also bis zu den Karten des Yincentius Demetrius
Voltius 1593 und des Bartholomaeus Crescentius 1596. In ihm muß man zweifellos
eine Nachwirkung der arabischen Kartographie erblicken 4 , in der ja das Ornamentale
das Leitmotiv der Darstellung war. Der Kreis und seine Teile waren die Zeichen
elemente für die Darstellung der Seen und Küsten.
Schon früh fing man an, gefährliche Küstenstellen, wie Klippen durch Kreuze
und flachgründige Meeresgestade durch Punkte, im Kartenbilde zu kennzeichnen.
In der Hauptsache sehen wir diese warnenden Zeichen an der weniger bekannten
Küste Nordafrikas, insonderheit in dem Gebiete der Syrten, und an den Gestaden
der Landenge von Perekop und im östlichen Asowschen Meere. In G. Benincasa’s
Atlas vom Jahre 1471 ist die Westküste von Afrika mit Klippenkreuzen und •
Sandpunkten ausgestattet. Und es war durchaus nichts Neues, als Waldseemüller
auf seinen Weltkarten aus den Jahren 1507 und 1516 die für die Schiffahrt gefährlichen
Stellen mit Kreuzchen hervorhob. 5 Die Rumbenkarten waren auch in dieser Be
1 Vgl. S. Rüge i. P. M. 1896, L. B., S. 80.
2 H. Wagner: Das Rätsel der Kompaßk., a. a. O., S. 80.
3 Vgl. Nordenskiöld: Periplus, T. VII.
4 M. Eckert: Die Kartenwissenschaft. I, S. 361. Hierselbst die nähere Begründung zu obigem.
5 Jos. Fischer u. Fr. v. Wieser: Die älteste Karte mit d. Namen Nordamerika aus d. J.
1507 u. d. Carta Marina aus d. J. 1516 des M. Waldseemüllers (Ilacomilus). Innsbruck 1903, S. 8.