114
Geist und Materie.
§ 55-
5. Doch seit Descartes erhob sich noch ein neues
Vorurteil in den Schulen. Indem er (wohl aus sehr löb
licher Absicht) den Unterschied zwischen denkenden und
nichtdenkenden Substanzen (Geist und Materie, wie
er sie nannte) nicht hoch genug glaubte ansetzen zu können,
verfiel er auf jene dem gemeinen Menschenverstände so
auffallende, ja fast undenkbare Behauptung, daß ein gei
stiges Wesen nicht nur nicht als ein ausgedehntes, d. h.
aus Teilen bestehendes, sondern nicht einmal als irgendein
im Raume befindliches, also auch nur einen einzigen Punkt
im Raume durch seine Gegenwart erfüllendes Wesen an
gesehen werden dürfe. Da nun in späterer Zeit Kant gar
so weit ging, den Raum (nicht minder wie die Zeit) für
ein paar bloße Formen unserer Sinnlichkeit zu erklären,
denen kein Gegenstand an sich entspreche; da er zwei
Welten, eine intelligible der Geister- und eine Sinnen-
welt, einander geradezu entgegensetzte; so ist es nicht zu
bewundern, wenn sich das Vorurteil von der Unräumlich
keit der geistigen Wesen in Deutschland wenigstens so tief
festsetzte, daß es bis auf den heutigen Tag in unseren
Schulen noch besteht. Hinsichtlich der Gründe, durch die
ich dieses Vorurteil bekämpft zu haben glaube, muß ich
auf andere Schriften, vornehmlich auf die Wissenschafts-
lehre und Athanasia verweisen. So viel wird jeder zu
gestehen müssen, daß die von mir aufgestellte Ansicht,
zufolge der sich alle geschaffenen Substanzen aus einem
gemeinschaftlichen Grunde wie in der Zeit so auch im
Raume befinden müssen, und aller Unterschied in ihren
Kräften ein bloßer Gradunterschied ist, sich schon durch
ihre Einfachheit vor jeder anderen, die man bis jetzt ge
kannt, empfehle.
§ 56.,
6. Bei dieser Ansicht fällt auch das große Paradoxon
hinweg, das man bisher noch immer in der Verbindung